Wir sind dagegen. Mir scheint, das ist eine der Grundeinstellungen unserer Gesellschaft. Wir sind gegen den Krieg in der Ukraine, gegen die Hamas, gegen die Besetzung des Gazastreifens, gegen den Klimawandel, gegen Homophobie, gegen Ausgrenzung, gegen die Ampelkoalition, gegen…
Ich könnte diese Liste wahrscheinlich fast endlos fortsetzen. Und in vielen „Gegenpunkten“ finde ich mich dabei auch selbst wieder. Auch ich bin dagegen, wenn Jugendliche an Silvester die Mülltonnen in meiner Straße in die Luft sprengen, im Internet Falschinformationen verbreitet werden, Religion als Machtinstrument gebraucht wird… Müssen wir nicht gerade auch als Christen entschieden Position gegen manche gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen beziehen? Auch Christen sind dagegen!
Muss das wirklich sein? Ich bin davon überzeugt, dass ich auch und gerade als Christ nicht einfach alles hinnehmen sollte, was auf dieser Welt passiert. Und damit werde ich wohl leider immer wieder mal „zwischen die Fronten“ geraten. Aber ich merke an mir selbst, dass ein pures Dagegen-Sein keine Probleme löst. Ganz im Gegenteil: Es verschärft sie meistens noch weiter! Ich bin gegen die Aussagen mancher Politiker und stecke mehr oder weniger unbewusst jeden, der ihre Partei wählt, in die Schublade mit dem Etikett „Idiot“. Ich bin gegen eine Entscheidung meines Chefs und untergrabe, ohne es zu merken, in jedem Gespräch mit Kollegen seine Autorität. Ich stehe gegen Ausgrenzung auf und lasse alle Menschen, die nicht meine Meinung teilen, sehr deutlich spüren, dass sie bei mir nicht willkommen sind. Ich versuche, aus einer Spirale zu entkommen, der ich bei jedem Schritt eine neue Windung hinzufüge. Irgendwie ernüchternd, oder? Wie kommt man denn da raus?
Ich glaube, das nicht so besonders geheime Geheimnis lautet: „Liebe“! Ich meine damit eine Liebe, die es in ihrer reinen Form nur bei Gott gibt. Gott ist Liebe, aus Liebe wurde er Mensch, ging bis ans Kreuz und durch den Heiligen Geist will diese Liebe auch in mir wohnen und wirken. Und Liebe ist nicht dagegen, sondern dafür. Liebe kann vergeben und den Blick auf das Gute richten. Liebe ist für mich wahrscheinlich vor allem eine Frage der Perspektive.
Der menschliche Körper ist so gebaut, dass Füße und Gesicht in dieselbe Richtung zeigen. Wir bewegen uns leichter und schneller auf das zu, worauf wir schauen. Eine Antihaltung schaut auf das Schlechte, Liebe dreht ihm den Rücken zu. Wir stehen vielleicht immer noch zwischen den Fronten, aber unsere Blickrichtung ist eine andere. Wir suchen nicht nach Schuldigen, sondern nach Lösungen. Wir versuchen nicht nur „die Bösen“ aufzuhalten, sondern den Hilfsbedürftigen beizustehen. Wir sind nicht in erster Linie dagegen. Wir sind für.
In der Praxis mag das auf den ersten Blick vielleicht manchmal gar nicht so anders aussehen. Aber innerlich, in meinem Denken und Fühlen, ist das ein riesiger Unterschied! Liebe gibt meinem Handeln Sinn und Zweck für die Zukunft. Liebe bleibt nicht in blindem Aktionismus stecken. Liebe zwängt meinem Gegenüber nicht meine Vorstellungen von „richtig“ und „falsch“ auf, sondern hilft mir, Spannungen auszuhalten. Liebe bleibt nicht vor den Schwierigkeiten und Herausforderungen stehen, sondern sucht Wege hindurch.
Wir brauchen wohl alle mehr Liebe in unserem Leben. Nicht nur als Individuen, sondern auch als Kirche und Christenheit insgesamt. Ohne Liebe sind Kirchen und Gemeinden bald nur noch irgendwelche frommen Vereine, die niemand wirklich braucht. Mit Gottes Liebe sollen und dürfen sie Orte werden, in denen wir einander ehrlich begegnen und gerade in Konflikten den Dialog miteinander suchen. Denn daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt. (Joh 13,35)
Dass dieser Artikel in der Jahresmitte etwas mit dem Thema Liebe zu tun hat, ist übrigens nicht nur reiner Zufall. Schau doch mal hier vorbei und lies unseren Beitrag zur Jahreslosung 2024!